Das eigentliche Problem. Fragen und Mutmaßungen des Jacob Delafon; nebst Beispielgedichten ist kein problematisches, sondern ein besonderes, ein herausragendes Buch. Es präsentiert den Dichter Keith Waldrop auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Der Autor verbindet seine ›trademarks‹ – prosapoetische kleine Szenen, die für sich genommen bereits bezaubern; Motive, die in all ihren Facetten durchgespielt werden; Wortmaterial, das auf versteckte Bedeutungen abgeklopft wird – mit einer Rollenlyrik, wie sie in den vergangenen Jahren kaum erprobt wurde.
Der Protagonist mit dem sprechenden Namen sucht nach einem Namen für sein Problem, für seine existenzielle Unruhe. MANCHMAL WÜNSCHT ER SICH, ER KÖNNTE SPRECHEN WIE DER DONNER. ER WEISS ZUGLEICH NICHT, WAS ER IN DIESEM FALL ZU SAGEN HÄTTE. Er sucht in Notizen, in Erinnerungen, in gelebten wie abgelegten Leben nach etwas, was das Ganze zusammenhält. ER FINDET EINEN SATZ, DEN ER ABGESCHRIEBEN HAT, DOCH NICHT EINORDNEN KANN, UND WEISS NICHT, WAS ER DAVON HALTEN SOLL: »NICHTS AUF ERDEN KANN DIR ETWAS ANHABEN, DENN DU BIST WIE ALLE DINGE UND NICHTS IST DIR UNÄHNLICH.« Was tun, wenn man in Allem vorkommt – außer im Nichts? Ist das Ganze ein Albtraum? Warum scheut er das Licht? JACOB DELAFON HAT EINEN ALBTRAUM, DER IN EINZELTEILE ZERFÄLLT, WOBEI JEDES TEIL EIN EIGENER ALBTRAUM IST, WIE EIN IN STÜCKE GESCHNITTENER WURM, WOBEI JEDES GLIED NOCH AKTIV IST UND SICH WINDET DURCH UNRUHIGEN SCHLAF. Seine Freundin Jane Floodcab – Anagramm seines Namens – steht ihm bei. Doch auch sie kann er nicht auf den Punkt bringen. Beim Versuch, ihr Porträt zu zeichnen: ER KANN SICH NICHT DAZU DURCHRINGEN, ANZUFANGEN – JANE FLOODCAB POSIERT VOR IHM –, UND DARUM WIRD ER SCHEINBAR NIEMALS IN DER LAGE SEIN, ADERN ODER SEHNEN AUFZUTRAGEN, GESCHWEIGE DENN DEN KÖRPER MIT FLEISCH UND HAUT EINZUKLEIDEN.
Wiederkehrendes Motiv des Texts ist die Achse zwischen Oben und Unten, Irdischem und Göttlichem, Sakralem und Profanem, Ausstieg aus der Welt und Feier des Augenscheinlichen. Jacob will Ordnung in das Chaos bringen, wie im biblischen Schöpfungsakt. Die Komposition des Bands spiegelt diesen Versuch. Jacob ist kein Mann ohne Eigenschaften, sondern mit zu vielen Eigenschaften. Er ist nur er selbst, mit Vorlieben, Obsessionen, wie er auch Ausdruck eines Gesamtdramas der Existenz ist. JACOB DELAFON HAT DREIMAL VERSUCHT, SEINE MEMOIREN ZU SCHREIBEN, DIE ER ALS PHILOSOPHISCHES WERK ANSIEHT. ER IST NIE ÜBER DEN ERSTEN SATZ HINAUSGEKOMMEN.
Die lyrische Reise der Hauptfigur Jacob Delafon, der herausfinden will, was in der Welt eigentlich das Problem ist, ist gedankenreich, berührend, bisweilen urkomisch. Was das titelgebende eigentliche Problem ist, spoilern wir nicht. Ein Hinweis: JACOB DELAFON IST UNSICHER, WAS ER VOM LEBEN HALTEN SOLL, DOCH HAT SICH AN ES GEWÖHNT. Und ein zweiter Hinweis: JACOB DELAFON IST UNSICHER, WAS DAS LEBEN VON IHM HÄLT, DOCH NIMMT AN, ES HABE SICH AN IHN GEWÖHNT.
»Jacob Delafon hat einen Albtraum, der in Einzelteile zerfällt, wobei jedes Teil ein eigener Albtraum ist, wie ein in Stücke geschnittener Wurm, wobei jedes Glied noch aktiv ist und sich windet durch unruhigen Schlaf. // Jacob Delafon wird gesagt, dass wir nach dem Tode nichts mehr wissen werden, während der Schmerz anhalten wird. Er hält dies für unbegründete Zuversicht. // Sein Problem, beschließt Jacob Delafon, besteht darin, nicht nicht existieren zu können – ohne das Bewusstsein zu verlieren.«
Nachdem 2017 und 2018 die beiden Auswahlbände gravitationen 1 | ausgewählte gedichte [1968-1997] und gravitationen 2 | aus gewählte gedichte [2000-2009] erscheinen konnten, fand sich ein Herausgeberteam bestehend aus Jan Kuhlbrodt, Michael Wagener und Alexander Kappe zusammen, um jetzt auch komplette ›Bruchstücke‹ des poetischen Kosmos von Keith Waldrop ins Deutsche zu übertragen. 2023 erschienen schließlich das prinzip der lokalität, der umriss der brücke und semiramis soweit ich erinnere gemeinsam als drei Einzelbände, im Nachgang als Sonderausgabe – drei Büchern gebündelt – in Kassette, die auch als Lyrikempfehlung des Jahres 2024 ausgezeichnet wurde. Mit das eigentliche problem, ist nun ein nächster Schritt in der entstehenden Werksausgabe des großen nordamerikanischen Dichters gemacht. Angereichert wird das von Alexander Kappe übersetzte Buch von einem ausführlichen Stellenkommentar fragen und mutmaßungen des übersetzers, eine kleine Lichtquelle im Dunklen.