Dass man Thesen und Argumente verstehen kann, ist in der Philosophie nicht kontrovers. Aber kann man eine Philosophie als ganze verstehen? Die Suche nach einer leitenden Intention ist vielleicht anfänglich hilfreich, aber sie stößt schnell auf die Frage: Woher stammt diese Intention?
Im 20. Jahrhundert ist der Begriff ›Denkform‹ in Mode gekommen, um all das zu fassen, was für einen philosophischen Versuch bestimmend ist: der grundlegende Ansatz, die leitenden Gesichtspunkte, die unausgesprochenen Grenzen zwischen dem stillschweigend Vorausgesetzten und dem Begründungsbedürftigen, die Voraussetzungen der Prämissen etc.
Die vorliegende Untersuchung will zeigen, dass die Denkform bereits in der Philosophie des Mittelalters entdeckt worden ist – also in einem Kontext, in dem es primär ›nur‹ um die Wahrheit von Aussagen und die Bündigkeit von Begründungen ging. Falls der Befund zutrifft, liegt darin ein bemerkenswerter Beleg für ein genuin philosophisches Interesse im Denken des Mittelalters. Ins-besondere bei Thomas von Aquin lässt sich dieses Interesse im Umgang mit den bedeutenden Philosophien der Antike – Platon und Aristoteles –, aber auch mit den prägenden Orientierungsautoren wie Augustinus nachweisen. Thomas hat sogar versucht, die erste Epoche der Philosophie in ihrer Schrittfolge nicht bloß doxographisch zu beschreiben, sondern in ihrer Folgerichtigkeit verständlich zu machen.