Bedeutete der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt im Gedächtnis der
europäischen Nationen, so gilt dies noch mehr für das deutsche Judentum.
Entgegen der zu Kriegsbeginn ausgegebenen Parole vom „Burgfrieden“ sorgten
antisemitische Verbände für die Verbreitung judenfeindlicher Schriften,
die im nichtjüdischen Bürgertum auf erhebliche Resonanz stießen und die
bereits weit fortgeschrittene Integration des jüdischen Bürgertums in die wilhelminische
Gesellschaft in Frage stellten. Wie haben jüdische Intellektuelle
auf diese nachhaltige Erfahrung der Anfeindung und Ausgrenzung reagiert?
Der Autor entwickelt auf diese Frage eine differenzierte Antwort, indem er
prominente jüdische Stimmen von Walther Rathenau und Franz Kafka bis Martin
Buber und Leo Baeck zu Wort kommen läßt und im Kontext des sich verschärfenden
Meinungsklimas interpretiert. Resignation und schwindendes
Vertrauen in den Staat zum einen, die bewußte Abkehr vom Ideal der deutschjüdischen
Kultursymbiose und die Besinnung auf die eigene jüdische Identität
zum anderen waren, so Ulrich Siegs Diagnose, einige charakteristische
Folgerungen, mit denen jüdische Gelehrte, Schriftsteller und Journalisten der
für sie besonders bedrohlichen Krise der bürgerlichen Welt zu begegnen
suchten.
Dem hier veröffentlichten Text liegt ein Referat zu Grunde, das Ulrich Sieg am
2. März 2000 in der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus im Rahmen
der Reihe „Himmelsberg-Vorträge“ gehalten hat.