Im März 1875 wurde im ehemaligen Prämonstratenserkloster Schussenried die dritte württembergische Heil- und Pflegeanstalt eröffnet. Sie wurde im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer Anstalt, deren Mauern im Vergleich zu anderen Einrichtungen vergleichsweise „durchlässig“ waren, was die Interaktion dieser ehemaligen Anstalt, ihrer Insassen und ihres Personals mit der Welt ‚draußen’ betrifft. Dies schloss die Funktion der Anstalt als Ordnungsmacht dennoch keineswegs aus.
In der Einrichtung im ländlichen Raum Oberschwabens wurden aufgrund der Zuweisungsbedingungen über lange Zeit auch viele gebildete Patientinnen und Patienten versorgt, die mit dem Personal und der Bevölkerung vor Ort in einen überraschenden kulturellen Austausch traten, der auch in der Belletristik seinen Niederschlag fand, bis der ‚Zivilisationsbruch‘ des Nationalsozialismus in die Tat umgesetzt wurde.
Historisch untersucht wird im vorliegenden Band ein breites Themenspektrum der Geschichte der Psychiatrie und angrenzender Gebiete. Die Beiträge beinhalten neben der „Anstaltskultur“, wie sie sich etwa in der anstaltseigenen Zeitschrift ‚Schallwellen‘ widerspiegelte, auch Themen wie die Entwicklung des Pflegeberufs vor Ort oder die Biografie der ersten Ärztin in der damaligen Heilanstalt. Weitere Beiträge thematisieren die historische Entwicklung psychiatrischer Versorgungsformen wie beispielsweise der Psychiatrischen Familienpflege oder der Außenfürsorge, aus welcher sich ab den 1960er-Jahren der Sozialdienst entwickelte. Darüber hinaus werden die therapeutischen Reform- ansätze nach dem Zweiten Weltkrieg oder die regionalen Folgen globaler ereignisgeschichtlicher Phänomene wie desjenigen des Hitler-Mussolini-Pakts behandelt. Eine Sammlung an Kurzbiographien bemerkenswerter Menschen der Schussenrieder Psychiatriegeschichte sowie ein Beitrag zur Etablierung psychiatriehistorischer Museologie vor Ort runden diesen Band ab.